Teil 1:
“Tante Nica, erzählst Du uns noch eine Geschichte, bevor Du gehst?”
Die Arbeit im Waisenhaus machte Nicatera Stirlander durchaus Freude, aber es gab Tage, an denen die Kleinen einfach nicht genug haben konnten.
Immer wenn sie sich gerade aufraffte, weil es zuhaus noch einen Haufen Arbeit gab, mußte sie noch etwas erzählen. Sie war kein Freund von Kindermärchen, dafür waren eigentlich die Waisenmatronen da, dachte sie. Außerdem waren die Kleinen eigentlich auch schon zu alt für Märchen und wollten sowieso etwas spannenderes aus der weiten Welt hören. Das ließ sich machen. Sie lächelte, setzte sich umringt von den Kindern wieder in ihren Schaukelstuhl und begann:
"Es war vor vielen Jahren, da war der große Bischof Zinnober noch Einfacher Priester. Er predigte in seiner Gemeinde, wie es seine Pflicht war, und er bekam von vielen einfachen Leuten Einladungen zu besonderen Festen. Die besuchte er auch meist gern, weil er Gesellschaft liebte. Eines Tages jedoch bekam er von einem sehr reichen Mitglied seiner Gemeinde eine Einladung zu einem Geburtstagsfest.
Den reichen Mann hatte er nur selten in seiner Kirche gesehen und wenig mit ihm gesprochen, und er fühlte sich etwas deplaziert auf der Gästeliste. Da er jedoch kein Spielverderber sein wollte und neugierig auf die Geburtstagsgesellschaft war, sagte er zu.
Am Tag des Festes zog er seine gewöhnlichen Roben an, setze sich seine gewöhnliche Kappe auf und nahm seinen Spazierstock und ging zu dem Palast, in dem das Fest stattfand.
Dort angekommen, fand er die Gesellschaft schon beim Feiern vor, jedoch nahm von seinem Eintreten keiner Notiz.
Kein Bediensteter wollte ihm seinen Mantel abnehmen, kein Kellner ihm einen Platz zuweisen und niemand richtete ein Grußwort an ihn, während sich um ihn herum alles prächtig zu amüsieren schien. Man aß, trank, sprach eitle Dinge und war bester Laune in dem erlauchten Kreis. Er schaute sich das eine Weile an, dann ging er nach Hause.
Dort zog er sich seine besten Meßgewänder an, seine schönste Kappe und den Sonntags-Spazierstock, der ein Geschenk vom Winterhauchfest war.
So zog er abermals los, dem Palast entgegen.
Als er eintrat, wurde er mit tiefen Verbeugungen von einem Lakaien empfangen, ein Schankkellner reichte ihm ein edles Glas mit bestem Wein und brachte ihn an einen reich gedeckten Tisch mit einem goldbestickten Sitzkissen. Dort angekommen, wurde er freundlich von den anderen Gästen begrüßt und man reichte ihm Speisen.
Er jedoch begann, nicht zu essen, sondern den Rockzipfel seines Gewandes in die Suppe zu tauchen und sprach ´Iß, mein Mantel, iß nur reichlich!´. Seine Kappe legte er auf seinen Teller, das Besteck daneben und sprach zur Kappe ´Ich wünsche Dir einen guten Appetit, Kappe, die eingelegten Lendchen sehen sehr gut aus!´. Den Ärmel seiner Robe jedoch tunkte er in das Weinglas und sprach ´Prost Robe, auf Deine Gesundheit! Das ist ein hervorragender Tropfen, wie ich glaube!´
Die Gäste hoben beunruhigt ihre Augenbrauen, als sie Zinnober solch seltsame Dinge verrichten sahen, und sie sprachen ihn schließlich an, was das denn sein solle.
Er entgegnete ihnen jedoch: “Nun, all diese Höflichkeiten gelten ja wohl offensichtlich doch nur meiner guten Kleidung, dann soll sie auch etwas davon haben!”
Nicatera erhob sich lächelnd aus ihrem Schaukelstuhl und ging nach Haus.
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